«Im Überfluss kann man Feste feiern»

Der Münchner Zoologe und Evolutionsbiologe Josef Reichholf meint herausgefunden zu haben, warum die Menschen vor 12 000 Jahren sesshaft wurden: Am Anfang stand nicht Brot, sondern Bier!

Interview: Kathrin Meier-Rust

NZZ am Sonntag: Herr Reichholf, Sie sind Zoologe und Evolutionsbiologe. Nun haben Sie ein Buch geschrieben zur Kulturgeschichte des Menschen – ist das wissenschaftlich legitim?

Josef Reichholf: Die Evolutionsbiologie ist eine historische Wissenschaft, denn Evolution ist ein Prozess in der Zeit, und sie arbeitet mit Themen, die nicht wiederholbar sind, wie alle Geschichte, die menschliche mit eingeschlossen. Das führt dazu, dass sich die Fragen und Methoden gleichen: Es geht um Datierungen, um die Erfassung von Umständen, die sich ändern. Deshalb ist die alte Bezeichnung Naturgeschichte viel zutreffender als das moderne Life Science.

Von dieser Naturgeschichte schlagen Sie nun den Bogen zur Kulturgeschichte des Menschen, die mit der sogenannten Neolithischen Revolution etwa vor 12 000 Jahren beginnt, damit nämlich, dass die Menschen sesshaft wurden.

In der Naturgeschichte ist der Mensch zunächst ein Lebewesen wie alle anderen, das dann allerdings besonders erfolgreich wird. Wie später, wenn die Menschen sesshaft werden, stellt sich schon bei der Evolution des Homo sapiens die Frage: Was verursacht diese grossen Übergänge, die grossen Neuerungen? Die gängige Erklärung in der Evolutionsbiologie lautete bisher immer: Zwang aufgrund von Mangel. Weil die Tropenwälder, in denen die Primaten lebten, aus klimatischen Gründen schrumpften, wurde der Lebensraum knapp für unsere frühesten Vorfahren, und sie mussten deshalb hinaus in die Savanne und wurden dort im hohen Gras zum aufrechten Gang gezwungen.

Klingt doch recht plausibel?

Meine Erklärung geht von völlig anderen Voraussetzungen aus. Weil sich die Savannen in Afrika aus klimatischen Gründen so weit ausbreiteten und überaus reich an Grosswild wurden, war dieser Lebensraum für Primaten besonders attraktiv, die in den Wäldern immer unter der Knappheit von Eiweiss litten. Neue Ressourcen ändern das Verhalten und ermöglichen damit auch Entwicklung. Die evolutionsbiologische Währung dafür ist der Fortpflanzungserfolg: Steinzeitmenschen hatten mindestens doppelt so viele Kinder wie die uns nächstverwandten Schimpansen.

Also eine höchst erfolgreich angepasste Art. Das Sesshaftwerden dagegen brachte, wie wir heute wissen, grosse Nachteile: Harte Arbeit, Infektionskrankheiten und Missernten liessen Körpergrösse und Lebenserwartung zurückgehen. Wo bleibt der Vorteil?

Gerade deshalb hat mich die gängige Erklärung der Sesshaftigkeit nicht befriedigt. Auch diese folgt nämlich wieder dem Gesetz des Zwangs durch Mangel: In der letzten Eiszeit wurde das Jagdwild so viel seltener, dass die Menschen gezwungen waren, winzige harte Gräsersamen zu kauen – wie sollen da ganze Menschengruppen in nützlicher Frist satt werden?

Was brachte Sie auf eine neue Fährte?

Ackerbau und Viehzucht sind bekanntlich zum ersten Mal im sogenannten fruchtbaren Halbmond entstanden. Ich überlegte mir als Ökologe, was diese Bezeichnung eigentlich heisst. Wo der Boden fruchtbar ist, wachsen einjährige Gräser in Massen, und das wiederum ergibt bestes Weideland für jene Tiere, die die Menschen gejagt haben. Da muss es also nicht Mangel, sondern Überfluss an Fleisch gegeben haben, ganze lebende Fleischberge haben sich da getummelt. Es gab also keinerlei Notwendigkeit für die Menschen, auf das Kauen von harten Grassamen umzusteigen. Im Gegenteil: Wenn Überfluss herrscht, kann man es sich leisten, Feste zu feiern. Weil man nicht unter Zeit- und Energiemangel leidet, kann man Tätigkeiten auszuüben, die Zeit und Energie kosten. Und wenn unter solchen Bedingungen Körner gesammelt werden, um sie zu Bier zu verbrauen – dann geht das prächtig auf.

Damit sind wir bei Ihrer These: Am Anfang war das Bier. Darauf kann nur ein Forscher aus München kommen.

Das haben die Zuhörer meiner ersten Vorträge auch gesagt. Tatsächlich kann aber die Hypothese, dass die ersten Körner nicht zum Brotbacken, sondern zum Herstellen von alkoholischen Rauschgetränken für Fest oder Kult gebraucht wurden, vieles erklären. Zum Beispiel, warum schon die ersten Anfänge des Ackerbaus gleich etwas gebracht haben, bevor das Getreide durch Züchtung ertragreicher wurde. Man kann ja schon mit wenigen Körnern Bier brauen, ohne die Spelzen vom Korn trennen zu müssen, die alkoholische Gärung entsteht von selbst. Auch erklärt dieser Gebrauch von Körnern die Tatsache, dass die ersten archäologischen Funde von Getreidekörnern um viele Hunderte, ja Tausende von Jahren älter sind als der erste Nachweis von Getreideanbau – und zwar in allen Kulturen und bei allen Getreidesorten.

Wie erklären Sie die ersten Siedlungen?

Alle frühesten uns bekannten menschlichen Bauten, wie zum Beispiel Göbekli Tepe in der Südtürkei, haben eindeutig dem Kult und damit dem Feiern von Festen gedient. Und wir haben noch einen weiteren interessanten Befund: Alle Ackerbaukulturen sind alkoholtoleranter als Jäger-Sammler-Kulturen. Das Feuerwasser hat bekanntlich den Indianern mehr zugesetzt als die Gewehre. Indios und Aborigines können dagegen mit Rauschdrogen besser umgehen: mit Tabak, Hanf oder Meskalin. Wie bei der Toleranz von Milch handelt es sich um frühe genetische Spezialisierungen.

Menschen hätten also Körner zunächst angepflanzt, um Bier zu brauen – bis die Erträge grösser wurden und sie dann auch das Brotbacken entdeckten?

Genau das meine ich! Über Jahrhunderte gebrauchten Nomaden bereits Körner für alkoholische Fest-Getränke, lange bevor die ersten Gruppen sesshaft wurden. Auch bei der Nutzung von Äpfeln und Birnen stand wohl die Mosterzeugung im Vordergrund, denn die Wildformen waren bitter und kaum geniessbar.

Ist die Vorgeschichte des Menschen eine Art Tatort, wo sich Forscher auf kriminalistische Spurensuche begeben können und aufgrund einer Indizienkette einen Beweis vorlegen?

Im Prinzip schon, wir haben ja keine andere Chance. In der Geschichte ist es aber genauso, selbst schriftlichen Quellen kann man ja nicht einfach trauen. Es braucht Quellenkritik.

Wie betreibt man Quellenkritik in der Naturgeschichte?

Mir geht es um Plausibilität der Erklärungen von grossen Neuerungen. Ich sage schlicht: Nicht der Mangel, sondern Überfluss erlaubt Neuerungen. Und zweitens: Eine Erfindung, die sich über längere Zeit hält und weiterentwickelt, muss langdauernde Vorteile gebracht haben. Hungernde Menschen haben sicherlich auch mal Regenwürmer gegessen. Aber offenbar brachte es auf Dauer keine Vorteile. Ganz im Gegensatz zum Biertrinken.

Muss ein Wissenschafter erst ein gewisses Alter und eine Reputation haben, um ein populärwissenschaftliches Buch zu einem breiten Thema zu schreiben?

Es ist typisch für Naturwissenschafter, sich zunächst extrem zu spezialisieren. Man weiss dann zwar absolut alles von fast nichts, aber es interessiert keinen. Dafür braucht man keine Angst vor Kritik zu haben. Diese Überspezialisierung führt fast zwangsweise dazu, dass man in anderen Bereichen wenig mitbekommt und dann umso mehr Angst hat, in die Breite zu gehen – man könnte sich ja blamieren.

Sie fürchten nicht, dass die Spezialisten nun Ihr Buch nach Strich und Faden auseinandernehmen?

Genau das ist mein wissenschaftliches Ziel: dass sich die Vor- und Frühgeschichtsforscher und die Archäologen mit neuen Ideen aus anderen Disziplinen auseinandersetzen müssen.

Sie mögen offenbar Grenzüberschreitungen?

Ganz gewiss. Mein grosses Vorbild ist der Schweizer Biologe Adolf Portmann! Gegner von Grenzüberschreitungen sind von vorgestern. Die klassischen Claims der Goldsucher gibt es in der Wissenschaft längst nicht mehr.

«In der Savanne gab es nicht Mangel, sondern Überfluss an Fleisch, da tummelten sich ganze lebende Fleischberge.»

Josef H. Reichholf
Der Zoologe, Evolutionsbiologe und Ökologe leitet die Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung in München. Seine ökologischen Forschungen und ausgedehnten Forschungsreisen weltweit haben ihn zu einer hochgradig vernetzten Betrachtung der Naturgeschichte und der heutigen Situation unserer Erde geführt. Schon in «Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends» (2007) befasste sich Reichholf mit der Geschichte. Im soeben erschienenen Buch «Warum die Menschen sesshaft wurden» (Fischer, 2008) erklärt er deren Anfänge. (kmr.)

Quelle: NZZ Online

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